Ängste vor sozialen Kontakten nach dem Ende der Pandemie – das ist keine Seltenheit, wie die American Psychological Association, der US-amerikanische Fachverband der Psychologie, in einer aktuellen Studie feststellte. Selbst Menschen, die bereits vollständig geimpft sind, fühlen sich unwohl bei dem Gedanken, wieder nach draußen zu gehen und andere Leute zu treffen. Denn Maske tragen, Abstand halten und soziale Kontakte weitgehend vermeiden waren bisher das Gebot der Stunde. Lockerungsmaßnahmen ermöglichen mittlerweile wieder das Treffen mit Freunden im Park oder gemeinsames Sporttraining. Doch viele Menschen tun sich nach Monaten mehr oder weniger strenger Kontaktarmut noch schwer mit dem sozialen Miteinander.

Für Professor Dr. med. Uwe Gonther, Ärztlicher Direktor der psychiatrischen Einrichtungen in Bremen und Geestland, ist das auch kein Wunder. Im Interview mit der Nordsee-Zeitung stellt er fest: „In dem Verhalten liegt ja durchaus etwas Gesundes und Richtiges. Wir mussten alle erleben, dass es gefährlich ist, dieselbe Luft mit anderen Menschen einzuatmen. Das steckt noch in unserem Verhaltensprogramm.“ Das Cave-Syndrom klingt für ihn jedoch wie eine Erkrankung. „Doch das ist erst mal eine vollkommen normale Erscheinung“, beruhigt Professor Gonther. „Bei allen psychischen Erkrankungen gibt es fließende Übergänge. Erst wenn sie irgendwann ganz deutlich zutage treten, kann man mit guten Gründen von Krankheiten sprechen.“

Anpassungsverzögerung statt Erkrankung

Bei den jetzt auftretenden Ängsten vor Nähe nach fast anderthalb Jahren Pandemie hält Professor Gonther das Phänomen für kein Syndrom, sondern für eine berechtigte Skepsis. Der Begriff „Anpassungsverzögerung“ trifft es daher für ihn besser.

Ein kleiner Teil der Bevölkerung, darunter viele junge Menschen, hätten sich schon vor Beginn der Corona- Krise auf dem sozialen Rückzug befunden – weil die Gesellschaft „immer überfordernder“ werde. „Ob diese sozial gefährdete Gruppe durch Corona größer geworden ist, wird sich erst noch zeigen“, so Gonther weiter. Es sei völlig normal, dass das Wiedererwachen des Soziallebens und die Lockerungen für einige Menschen jetzt als Herausforderung empfunden werden.

Wobei das Tempo der Anpassung auch eine Typ-Frage ist. Für manche Menschen kann es gar nicht schnell genug gehen und sie versuchen, all das Verpasste nachzuholen. Andere haben es sich in der Corona-Höhle gemütlich gemacht. Für sie hat es einen Preis, wenn sie nun plötzlich wieder in die Öffentlichkeit gehen und mit ihren Unsicherheiten umgehen müssen.

Rückzug in die Höhle

Das Motiv muss also nicht immer Angst vor Ansteckung sein. Manche Menschen fühlen sich zum Beispiel in der Einsamkeit einfach wohler. Und so gibt es jene, denen gelingt das Umschalten mühelos, während es andere mehr Kraft kostet oder sie diesen „Höhlenzustand“ gar lieb gewonnen haben. Bestand eine gewisse Vorprägung dafür, kann sich bei manchen Menschen durch die Monate der Beschränkungen jedoch auch eine krankhafte Angst vor Kontakten herausgebildet haben. In dem Fall ist psychotherapeutische Hilfe empfehlenswert. Bei vielen Menschen dürfte sich das, was man nun Cave-Syndrom nennt, aber nach und nach legen. So wie das Erlernen der Vorsichtsmaßnahmen und der Ängste vor dem Virus ein Lernprozess war, gilt es nun, wieder zu einer Art Normalität zurückzufinden.

Soziale Kontakte langsam wieder trainieren

„Ängste kann man auch wieder verlernen, wenn man sich in die Situationen begibt, die einen ängstigen – und man merkt, dass es nicht so schlimm ist“, sagt Professor Gonther. Fühlt man sich unsicher mit einer Situation, ist es ratsam, das konkret zu thematisieren. Das verschafft Erleichterung. Wer nicht zu der Gruppe jener Menschen gehört, die jetzt alles nachholen wollen und überhaupt keine Schwierigkeiten mit der Anpassung haben, sollte nichts überstürzen, soziale Kontakte weiterhin dosieren und lieber klein anfangen.

Professor Gonther geht davon aus, dass sich auch die Begrüßungsrituale mit der Zeit wieder einspielen werden. „Jeder hat da sein eigenes Tempo“, so der Psychiater. Ob jemand nun künftig auf den Handschlag und eine Umarmung verzichten möchte oder nicht, müsse jeder selbst entscheiden. „Es gibt da ja keine Norm.“ Das eine sei auch nicht schlechter als das andere. Bis soziale Situationen wieder Teil der Normalität werden, braucht es Zeit. Die Fähigkeiten zur sozialen Interaktion, also zum Umgang miteinander, können verkümmern – so wie Muskeln. Und so wie bei den Muskeln gilt auch, dass man immer wieder üben muss.